Liebe Schwaben- Piranhas,
Elfmeter im Fußball haben eine lange Geschichte
Der Elfmeter im Fußball geht auf den irischen Torhüter William McCrum zurück. Dieser Sportler und Leinenfabrikant schlug 1890 in seiner Funktion als Mitglied des irischen Fußballverbandes vor, die damals wohl offensichtlich übliche Praxis, dass ein Spieler einen gegnerischen Spieler „absichtlich zu Fall bringt, oder festhält oder den Ball innerhalb von 12 Yards vor der Torlinie auf der Seite seiner eigenen Mannschaft absichtlich mit der Hand berührt“, zu beenden. Der Schiedsrichter sollte, so McCrum’s Vorschlag, in diesen Fällen „der gegnerischen Mannschaft einen Strafstoß zusprechen“. Ein Strafstoß sollte von jedem Punkt der sog. Sühnelinie, 12 Yards (10,97 m) vor dem Tor, ausgeführt werden können. Alle Spieler, mit Ausnahme des Torwarts und dem Elfmeterschützen sollten hinter dem Ball und mindestens 6 Yards vom Ball entfernt stehen. Der Torwart musste nicht im Tor bleiben, durfte sich dem Schützen jedoch auf nicht mehr als 6 Yards nähern.
Nach „erheblichen Diskussionen“ wurde diese Regel vom irischen Fußballverband 1891 ins Regelwerk aufgenommen. Der Elfmeterpunkt, so wie wir ihn heute kennen, wurde mit Einführung des Strafraums im Jahr 1902 festgelegt und ersetzte die Sühnelinie. Ab 1906 durfte der Torhüter die Torlinie beim Strafstoß nicht mehr verlassen, sich aber auf der Torlinie bewegen. Dies wurde 1929 untersagt, 1997 wieder eingeführt, aber mit der Bedingung, dass der Torwart bei der Ausführung des Elfmeters zumindest einen Fuß auf der Torlinie hat.
Analysen und Statistiken über Elfmeter
Über die Zahl an Elfmetern in der Bundesliga, welcher Verein die meisten Elfmeter bekommen hat, welcher Spieler wie viele Elfmeter geschossen und verwandelt oder nicht verwandelt hat und welche Chancen der Torwart überhaupt hat, die vermeintlich 100%-ige Torchance für die gegnerische Mannschaft zu vereiteln, dazu gibt es zahllose Analysen und Statistiken. Darin wurde auch die Interaktion dieser beiden Protagonisten vor und beim Elfmeterschuss anhand von tausenden Strafstößen untersucht und ausgewertet. Seit den 2010er Jahren wurden auch einige wissenschaftliche Arbeiten samt Wahrscheinlichkeitsberechnungen angestellt und veröffentlicht. So belegte ein Physikprofessor an der Technischen Universität Dortmund sowie ein Forscherteam am Institut der Universität Erlangen-Nürnberg mit purer Physik und Mathematik, dass der Torwart rein rechnerisch ohne Chance ist. Dies leiteten sie ab, aus der Breite und - Höhe bzw.- Fläche des Tores, der durchschnittlichen Größe des Torwarts und dessen Armspannweite, der Geschwindigkeit (bis zu 100 km/h) mit der der Ball auf den Torwart zukommt, verbunden mit der (relativ) geringen Entfernung zwischen Torwart und Schütze sowie dem Durchmesser des Balls. Sie belegten, dass selbst ein Torwart mit 2 m Körperlänge, einer Armspannweite von 2,5 m und extrem kurzer Reaktionszeit bei einem platziert und hart geschossenen Strafstoß zumindest rechnerisch chancenlos ist. Ein stramm geschossener Elfmeter ist nach gerade mal etwa 0,5 sec auf Höhe der Torlinie. Bezieht man mit ein, dass selbst die besten Torhüter eine Reaktionszeit von mindestens 0,25 sec haben, dann bleibt dem Torwart noch eine Viertelsekunde, um den Ball vor dem Einschlag ins Tor abzuwehren. Dazu müsste der Torwart in 0,25 sec aus dem Stand auf 35 km/h beschleunigen können. Dies ist unmöglich. 35 km/h erreicht selbst der weltbeste Sprinter über 100 m nicht.
Die einzige Chance des Torwarts, einen platziert und scharf geschossenen Elfmeter zu vereiteln, ist, dass er sich vor dem Schuss für eine Seite entscheidet. Dann fällt seine Reaktionszeit weg, sodass er aus dem Stand „nur noch“ rd. 18 km/h erreichen muss. Reaktionsschnelle und sprungstarke Schlussmänner haben eine Chance, den Ball abzuwehren, wenn sie sich für die richtige Ecke entschieden haben und der Ball flach oder „nur“ halbhoch auf sie zukommt.
Eine Forschergruppe an der Hochschule Frankfurt hat die Interaktion von Schütze und Torwart im Rahmen eines groß angelegten spieltheoretischen Forschungsansatz untersucht. Basierend auf einer Analyse von 402 Elfmetern errechnete die Forschergruppe eine Verhaltensstrategie sowohl für den Torwart als auch den Schützen und verglichen sie mit dem tatsächlichen Verhalten beim Elfmeter. Und diese Methoden werden ständig verfeinert.
Demnach soll die optimale Strategie für den Torwart und den Schützen darin bestehen, sich möglichst unberechenbar verhalten. Der Schütze soll eher spontan entscheiden, in welche Richtung des Tores und in welche Höhe er zielt. Der Torwart solle auch eher zufällig entscheiden, in welche Richtung er hechtet/springt.
Die Studie hat gezeigt, dass sich die Torwarte eher „optimal“ unberechenbar verhalten, die Strafstoßschützen jedoch eher an Ihren Gewohnheiten und Veranlagungen festhalten. Ist der Schütze „Rechtsfüßler“, schießt er fast immer mit dem rechten Fuß und die Studien belegen, dass seine bevorzugte Torseite beim Elfmeter die linke ist. Beim „Linksfüßler“ ist es genau umgekehrt.
Bei der Frage, wohin der Schütze zielt, zeigen die Studien, dass 50% aller Elfmeter entweder auf die linke oder die rechte Torecke geschossen werden. Der „Linksfuß“ schießt knapp 30% seiner Elfmeter in die vom Torwart aus gesehene linke Torecke und nur knapp 20% in die rechte Torecke. Knapp 10% seiner Schüsse zielt der Linksfuß auf die Mitte des Tores. Die Erfolgsquote des Linksfüßlers ist beim Schuss auf die von ihm aus gesehene rechte Seite deutlich höher, als wenn er auf seine bevorzugte Seite schießt. Auch hier ist es beim „Rechtsfüßler“ genau umgekehrt.
Es gibt wenige Spieler, die einen Elfmeter sowohl mit links als auch mit rechts schießen können und erfolgreich abschließen. Eine „berühmte Ausnahme“ fällt mir dazu ein: Andreas Brehme.
Völlig chancenlos ist der Torwart, wenn der Schütze -egal ob mit links oder rechts - den Ball im linken oder rechten, oberen Tordrittel unterbringt. Allerdings wird der Ball bei zwei von drei Strafstößen flach auf das Tor geschossen. Elfmeter, auf den körpernahen Bereich des Torwarts platziert, sind- wenig überraschend- meist eine Beute des Torwarts.
Laut den Studienergebnissen ist eine effektive Methode auch die, dass der Torhüter über das Verhalten und die Vorlieben der möglichen Elfmeterschützen in einem Spiel informiert ist. Daraus sind die „berühmten Spickzettel“ für Torwarte vor allem beim Elfmeterschießen entstanden. Zudem sollen Störaktionen des Torwarts vor der Ausführung des Elfmeters ebenfalls effektiv sein. Diese haben das Ziel, den Schützen in seiner Konzentration auf den Elfmeter zu stören, die Ausführung des Elfmeters zu verzögern usw., kurzum den Torwart zu verunsichern. Diese „Psycho-Spielchen“ sind sehr beliebt, werden aber wegen des möglichen Verstoßes gegen die Fair Play-Regeln vom Schiedsrichter häufig rasch unterbunden. Ganz ausgebufften Spielern gelingt es (regelmäßig) den Torwart „zu verladen“ oder sie verzögern den Anlauf und warten, bis sich der Torhüter für eine Ecke entschieden hat. Die Trefferquote bei Elfmeter-schüssen auf die Mitte des Tores ist im Übrigen am niedrigsten.
Eigentlich ist bei einem Elfmeter die Ausgangslage für die beiden Beteiligten immer identisch: Der Schütze versucht, den Torwart mit einem technisch sauberen und platzierten Schuss zu überlisten, oder ihn vor dem Schuss „auszukucken“. Der Torwart hingegen entwickelt eine Strategie, um den Schützen in der Konzentration zu stören und ihn aus seinem Konzept zu bringen. Neuerdings steht der Torwart auch vermehrt wenige Zentimeter versetzt zur Tormitte. In sechs von zehn solchen Fällen schießt der Schütze dann tatsächlich in die offenere Torecke. Verlässt sich der Torwart darauf, dann kann er gleichzeitig mit dem Torschuss in diese Ecke „fliegen“.
Der Torwart hat im Psychoduell mit dem Schützen sicherlich die besseren Karten. Oliver Kahn hat die Situation beim Elfmeter in einem Interview treffend in einem kurzen Satz zusammengefasst: „Der Einzige, der beim Elfmeter verlieren kann, ist der Schütze“.
Torwahrscheinlichkeit bei Elfmeter bei Livespielen praktisch in Echtzeit
Die Daten aus den zahllosen Statistiken und Auswertungen werden in den letzten Jahren mit immer moderneren Rechenmethoden verfeinert. Seit der Spielzeit 2020/2021 wird während Liveübertragungen von Fußballspielen der Bundesliga auf Grundlage eines statistischen Rechenmodells u.a. die Torwahrscheinlichkeit bei einem Torschuss in Echtzeit eingeblendet. Unabhängig davon, ob der Torschuss zu einem Tor führt oder nicht. Diese Wahrscheinlichkeit wird als Kennzahl „Expected Goals“ (xG-Wert) angegeben. Der xG-Wert liegt zwischen 0 und 1 (= 100%). Er wird anhand einer Vielzahl von Daten über die Spielsituation und die Torschussstatistik für jeden Spieler (aus dem Spiel heraus oder beim Elfmeter) nach einem bestimmten Rechenmodell errechnet.
Ein sehr anschauliches Beispiel der sehr komplexen Grundlagen und Berechnungen der Torwahrscheinlichkeit bei einem Schuss auf das Tor bei einem Fußballspiel ist ein Elfmeter. Bei einem Elfmeter liegt der Ball stets zentral vor dem Tor an einem bestimmten Punkt, elf Meter von der Torlinie entfernt und nur der Torwart steht im Weg. Die Zahl der Kriterien für die Berechnung des xG-Wertes beim Elfmeter sind daher im Vergleich zu einem Torschuss aus dem Spiel heraus niedrig. Es sind genau vier Kriterien. Die Entfernung von elf Metern zum Tor, der Winkel, unter dem der Ball (aus der Anlaufposition der Schützen ermittelt) auf das Tor fliegt, der Geschwindigkeit des Schützen beim Schuss sowie die „Drucksituation“ unter der der Torschütze steht. Das letzte Kriterium ist sehr komplex. Um die Drucksituation des Torschützen zu ermitteln werden historische Daten über frühere Elfmeter des Schützens und seine Erfolgsquote, die Bedeutung des Spiels, der Zeitpunkt des Elfmeters im Spiel und weitere Daten mit einbezogen.
Das xG-Rechenmodell wurde in einer Kooperation eines Tochterunternehmens der DFL mit einem „börsennotierten US-amerikanischen, global agierenden Onlineversandhändler mit breit gefächerten Produktpalette“ entwickelt. Dieses Modell wird nicht nur bei TV-Übertragungen von Fußballspielen der Bundesliga eingesetzt, sondern kommt auch in einigen anderen europäischen Fußballigen zur Anwendung.
Alle bis dato in der Bundesligageschichte verhängten Elfmeter von knapp über 5.000 weisen auf Grundlage dieses Rechenmodells eine xG-Wert von 0,77 auf.
In einer 2021 erschienen wissenschaftlichen Arbeit mit dem Titel „Analyse der Erfolgsfaktoren im europäischen Vereinsfußball“ werden Daten herangezogen, die auf der Internetseite einer internationalen Datenbank über die Statistik, Ergebnisse und Geschichte diverser Sportarten (Sport Reference) allgemein zur Verfügung gestellt werden. Laut dieser Studie ergibt sich eine Trefferwahrscheinlichkeit bei Elfmeter von 0,75 bis 0,80, in Abhängigkeit verschiedener Rechenmodelle. In die Berechnungen sind Daten über alle Elfmeter in den fünf europäischen Ligen: La Liga, Premier League, Bundesliga, Serie A und Ligue 1 über vier Spielzeiten (2017/2018 bis 2020/2021) eingeflossen.
Die vermeintlich „100%-ige Chance“, einen Elfmeter zu verwandeln, ist in Wirklichkeit also nur eine 75-77%-ige Chance. Im Mittel. Und damit bin ich beim VfB Stuttgart und erlaube mir zum Schluss meiner heutigen Kolumne noch einen Blick auf den xG-Wert des VfB Stuttgart bzw. seiner Elfmeterschützen seit dem Wiederaufstieg des VfB 2019/2020 in die 1. Bundesliga.
Torwahrscheinlichkeit bei Elfmetern beim VfB Stuttgart
Der oben zitierte Spruch von Oliver Kahn trifft beim VfB Stuttgart zumindest für das erste Drittel der laufenden Fußballsaison 2024/2025 voll ins Schwarze. Vier der fünf dem VfB Stuttgart zugesprochenen Elfmeter (in allen Wettbewerben) konnten von den drei Spielern, die zum Elfmeter antraten, nicht verwandelt werden. Eine bittere Erkenntnis. Demirovic hat seine beiden Elfmeter nicht verwandeln können (einen seiner beiden Elfmeter hat er per Nachschuss im Tor untergebracht). Millot hat auch seine beiden Elfmeter vergeben. Lediglich Karazor hat einen Elfmeter - im DFB-Pokal - verwandelt. Das war zugleich sein bisher erstes und einziges Tor als Profifußballer.
Die Elfmeterstatistik des VfB Stuttgart insgesamt nach dem Wiederaufstieg 2019/2020 ist auch alles andere als berauschend. Seither sind dem VfB einunddreißig Elfmeter zugesprochen worden. Davon wurden zwölf vergeben: Die Trefferquote bei Elfmetern beträgt gerade mal unterdurchschnittliche 63%. Bei den einunddreißig Elfmetern traten zwölf verschiedene Schützen an. Guirassy hat in seiner Zeit beim VfB sechs seiner sieben Elfmeter in der Bundesliga verwandelt. Sein xG-Wert für Elfmeter im Dress des VfB Stuttgart liegt mit 0,86 deutlich über dem Durchschnitt. Silas lag mit vier Treffen aus fünf Elfmetern ebenfalls über dem Durchschnittswert. Gonzales verwandelte drei von vier Elfmetern.
Von den Spielern aus dem aktuellen Kader hat Millot bisher nur einen von drei Elfmetern verwandelt. Der X-Wert von Demirovic ist 0. Dies gilt auch für Undav, der seinen einzigen Elfmeterschuss - in der letzten Spielzeit - nicht unterbrachte. Führich hat eine xG-Wert von 0,5 -einen seiner beiden Elfer hat er verwandelt. Einzig Karazor hat eine Trefferquote von 100%.
Das Fazit ist sehr einfach und eindeutig: Dem VfB Stuttgart fehlt nach dem Weggang von Guirassy derzeit auch (noch) ein erfolgreicher Elfmeterschütze.
So viel für heute.
Herzliche Grüße aus dem Schwarzwald
Bernhard
Soe/29.11.2024